Dienstag, 23. September 2008

Die nächste Renaissance - Doug Rushkoff über Demokratie

"Die nächste Renaissance" war Douglas Rushkoffs Grundsatzrede beim "Personal Democracy Forum 2008" ("Forum für persönliche Demokratie"), 23. und 24. Juni, New York.

DIE NÄCHSTE RENAISSANCE


Douglas Rushkoff


Deutsche Übersetzung und Bearbeitung: Bastiaan Zapf



Für mich ist "persönliche Demokratie" ein Oxymoron. Demokratie mag eine Menge Dinge sein, aber das letzte, was sie sein sollte, ist "persönlich". Ich verstehe "persönliche Verantwortung", wie bei einer Familie, die einen Eimer hat, in den sie jede Woche Glas und Metall tut. Aber selbst dann wäre ein einzelner Eimer für ein ganzes Gebäude oder einen Straßenzug effizienter und angemessener.

Demokratie ist nicht persönlich, denn wenn es dabei um irgendetwas geht, geht es nicht um das Individuum. Bei Demokratie geht es um die anderen. Es geht darum, das Selbst zu überwinden und kollektiv zu handeln. Demokratie, das sind Menschen, die gemeinsam Handeln, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Einer der Essays im Tagungsband dieser Konferenz, der unter dem Titel "Rebooting Democracy" erscheint, bemerkt schnippisch: "Es ist das Netzwerk, du Depp!". Das kommt bei uns Digitalen gut an, aber es ist nicht wahr. Es ist überhaupt nicht das Netzwerk, es ist das Volk. Das Netzwerk ist das Werkzeug - das neue Medium, das uns dabei helfen kann, die Befangenheit unserer Massenmedien zu überwinden. Alle diese Technologien, die uns auf uns selbst als Individuen konzentriert und entfernt von unserer Realität als Kollektiv halten.

Diese Konzentration auf das Individuum und die falsche Gleichsetzung mit Demokratie begann damals in der Renaissance. Die Renaissance brachte uns wunderbare Innovationen wie perspektivische Malerei, wissenschaftliche Beobachtung und die Druckerpresse. Aber jede dieser Innovationen definierte und feierte die Individualität. Perspektivisches Malen feiert die Perspektive eines Individuums auf eine Szene. Die Wissenschaftliche Methode zeigte, wie die echten Beobachtungen eines Individuums rationales Denken voranbringt. Die Druckerpresse gab Individuen die Möglichkeit, allein zu lesen und nachzudenken. Individuen formten Perspektiven, machten Beobachtungen und formten Meinungen.

Unsere heutige Vorstellung von Individualität wurde eigentlich in der Renaissance geboren. Der Mann vom Vesuv [AdÜ: gemeint ist "der Vitruvianische Mensch"], da Vincis großartige Zeichnung eines Mannes in einem perfekten Quadrat und Kreis - unabhängig und selbstgenügsam. Dies ist das Ideal der Renaissance.

Es war die Geburt dieser denkenden, individuierten Person, die zum Ethos, das der Aufklärung zugrundelag, führte. Mit dem Selbstverständnis als Individuen begriffen wir uns plötzlich als Inhaber von Rechten. Menschenrechten. Dem Recht auf Eigentum, dem Recht auf persönliche Freiheit.

Die Aufklärung - bei all ihrer Großartigkeit - war immer noch ach so persönlich in ihrer Auffassung. Der Leser allein in seinem Studienzimmer, darüber nachdenkend, wie seine Stimme zählt. Ein Mann, eine Stimme. Wir kämpfen Revolutionen für unsere individuellen Rechte, wie wir sie verstanden haben. Es gab Handlungen der Masse, aber das waren Massen von Individuen, die jeweils für ihre persönlichen Freiheiten gekämpft haben.

Ironischerweise wuchs die Macht zentraler Autoritäten entsprechend mit jedem Schritt hin zur Individualität. Erinnert euch, die Renaissance hat uns auch zentralisierte Währungen gebracht, beurkundete Gesellschaften, Nationalstaaten. Als Individuen sich um ihre persönlichen Sachen kümmerten, hat sich ihre frühere Macht als Kollektiv zu den zentralen Autoritäten hin verschoben. Lokale Währungen, Investitionen und Bürgerinstitutionen lösen sich auf, während das Eigeninteresse wächst. Die Autorität, die ihnen zugeordnet wird, bewegt sich zum Zentrum, weg von all den abstimmenden Leuten.

Das Medium der Renaissance - die Druckerpresse - ist geradezu Grandios im Mythenmachen. Im Markenbilden. Ihre Geschichten werden Individuen erzählt, entweder durch Bücher oder durch verbreitete Medien, gerichtet an jeden Einzelnen von uns. Ihre Appelle richten sich an das Selbst und an das Eigeninteresse.

Beachte irgendeine Werbung für Blue Jeans. Ihre Zielgruppe ist nicht eine selbstsichere Person, die eine Freundin hat. Die Werbung kommuniziert "trag diese Jeans, und du wirst Sex haben". Wer ist das Ziel für diese Nachricht? Eine isolierte, entfremdete Person, die keinen Sex hat. Die Nachricht zielt auf das Individuum. Wenn es ein Massenmedium ist, zielt es auf viele, viele Individuen.

Bewegungen, wie auch Mythen und Marken, hängen ab von dieser Qualität der von-oben-nach-unten, der Renaissance-Medien. Sie sind gar nicht eigentlich kollektiv, dadurch, dass es keine Förderung der Interaktion zwischen den Leuten darin gibt. Stattdessen beziehen sich all diese Individuen auf den Helden, auf das Ideal oder die Mythologie an der Spitze. Bewegungen sind abstrakt - das müssen sie sein. Sie erheben sich über die Gruppe, alle Aufmerksamkeit auf sich lenkend.

Wenn ich mir anhöre, wie die Leute hier reden - wohlmeinende Progressive, daran zweifele ich nicht - kann ich nicht vermeiden, den romantischen, beinahe verzweifelten Wunsch herauszuhören, Teil einer Bewegung zu werden. Teil von etwas Berühmten zu werden, wie der Obama-Kampagne. Vielleicht sogar durch die Beziehungen, die wir hier herstellen, einen K-Street-Job [AdÜ: K-Street: Ort
der US-Amerikanischen Lobbyisten in der Hauptstadt Washington D.C.] zu bekommen. Das ist eine Fantasie, die von der TV-Serie "West Wing" verbreitet wird. Ein Mythos, an dem wir Anteil haben wollen. Aber wie mit jedem Mythos ist es eine Fantasie - und eine, die beinahe zur Gänze vom Individualismus der Renaissance vorgeformt wurde.

Die nächste Renaissance (wenn es eine gibt) - das Phänomen, über das wir hier reden, oder zumindest eines in dessen Nähe - handelt überhaupt nicht vom Individuum, sondern von der vernetzten Gruppe. Von der Möglichkeit zum kollektiven Handeln. Die Technologien, die wir Benutzen - die Befangenheit dieser Medien - überlassen zentrale Autorität dezentralisierten Gruppen. Statt Macht auf das Zentrum zu übertragen, tendieren sie dazu, Macht zu den Rändern zu bewegen. Statt Wert von der Mitte aus zu schaffen - wie eine zentral ausgegebene Währung - schafft das Netzwerk Wert von der Peripherie aus.

Das heißt, teilnahme bedeutet keine einfache Billigung eines abstrakten, schon geschriebenen Mythos, sondern echte Dinge zu tun. Kleine Handlungen auf echte Art und Weise zu vollbringen. Der Ruhm liegt nicht im Glaubenssystem oder der Bewegung, sondern im Tun. Es geht nicht darum, jemanden gewählt zu bekommen, es geht darum, die Hindernisse zu entfernen, die echten Leuten im Weg stehen, ihre Arbeit zu tun. Das ist die Gelegenheit der vernetzten, der Open-Source-Ära: sich aus den Mythen auszuklinken und tatsächlich etwas zu tun.

Traurigerweise tendieren wir dazu, die großartigen Möglichkeiten, die uns durch größere Umbrüche in den Medien geboten werden, zu verfehlen.

Die erste große Renaissance in den Medien, die Erfindung des Alphabets, bot einen enormen Fortschritt in der partizipatorischen Demokratie. Nur Priester konnten Hieroglyphen lesen und schreiben. Die Erfindung des Alphabets eröffnete Leuten die Möglichkeit selber zu lesen oder vielleicht sogar selber zu schreiben. Im Mythos der Thora geht Moses mit seinem Schwiegervater los, um die Gesetze zu schreiben, nach denen ein versklavtes Volk jetzt leben kann. Anstatt einfach eine Gesetzgebung und eine Regierung hinzunehemen - den Gott Pharaoh - konnten Leute das Gesetz so entwickeln und niederschreiben, wie sie es wollten. Sogar die Torah ist in Form eines Vertrags geschrieben, und Gott schafft die Welt mit einem Wort.

Zugriff auf Sprache war der Wechsel von einer Welt der blinden, versklavten Gehorsamen zu einer Zivilisation lesender und schreibender, literater Leute. (Das ist gemeint, als Gott Abraham sagt: "Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern sein" - Es bedeutet, dass sie eine Nation der Leute seien, die die Hiergoglyphen, die "priesterliche Schrift", überwunden haben, um literat zu werden).

Aber das ist nicht passiert. Die Leute haben die Torah nicht gelesen - sie haben zugehört, als ihre Führer sie ihnen Vorgelesen haben. Zuhören war ein Schritt weg vom einfachen Gehorsam, aber das Versprechen des neuen Mediums wurde nicht eingelöst.

Genauso hat die Erfindung der Druckerpresse nicht zu einer Zivilisation der Schreiber geführt - sie hat eine Kultur der Leser entwickelt. Herren saßen und lasen Bücher, während die Druckerpressen denen zugänglich waren, die das Geld oder die Macht hatten, sie zu benutzen. Die Leute blieben einen Schritt hinter der Technologie zurück. Radio- und Fernsehrundfunk sind einfach nur eine Erweiterung der Druckerpresse: teure einer-an-viele Medien, die die massenhafte Verteilung von Geschichten und Ideen einer kleinen Elite fördern.

Computer und Netzwerke bieten uns endlich die Möglichkeit zu schreiben. Und wir schreiben mit ihnen. Jeder ist heute ein Blogger. Bürgerblogger und YouTuber, die daran glauben, dass wir jetzt eine neue, "persönliche" Demokratie angenommen hätten. Persönlich, weil wir sicher zuhause sitzen können und uns unseren Weg in die Freiheit tippen können.

Aber schreiben ist überhaupt nicht die Fähigkeit, die uns von diesen Werkzeugen angeboten wird. Die Fähigkeit ist Programmieren - was fast niemand von uns wirklich kann. Wir nutzen einfach die Programme, die für uns gemacht wurden, und geben unseren Blogtext in das passende Rechteck auf dem Bildschirm ein. Nichts gegen die Fortschritte von Bürgerbloggern und Journalisten, aber: große Sache. Lass sie Blogs fressen.

Zumindest auf der übertragenen Ebene ist die Gelegenheit nicht, über Politik zu schreiben oder - wahrscheinlicher - zu kommentieren, was jemand anderes über Politik gesagt hat. Die Gelegenheit ist jedoch, die Regeln umzuschreiben, nach denen Demokratie realisiert wird. Die Gelegenheit zu einer Renaissance durch Programmieren ist, den Prozeß, durch den Demokratie passiert, zu rekonfigurieren.

Wenn Obama tatsächlich gewählt wird - der erste wirklich Internet-befähigte Kandidat - sollten wir ihn beim Wort nehmen. Er bietet sich nicht selbst als Mittel des "Wechsels" [AdÜ: "Wechsel" - "Change" - ist Obamas Motto] an, sondern als Anwalt für den Wechsel, der von Leuten bewirkt werden könnte. Es geht nicht darum, dass die Regierung zum Beispiel Solarenergie schafft, sondern darum, dass sie den Leuten, die bereit sind, Solarenergie zu verwirklichen, nicht im Weg stehen soll. Auf den Willen der Leute, zu handeln, antwortend, kann er Gesetze entfernen, die im Namen der Ölindustrie Entwickelt wurden, um ihre Verbreitung zu verhindern.

In einer Ära, in der Leute die Möglichkeit haben, ihre Realität neu zu programmieren, ist die Aufgabe der Führer, diese Aktivität zu vereinfachen indem sie die Gesetze verbessern oder ihre Anstrengungen durch bessere Anreize oder den Zugriff auf die nötigen Werkzeuge und Kapital zu unterstüzen. Wechsel kommt nicht von der Spitze, sondern von der Peripherie. Nicht von einem Anführer oder einem Mythos, der Leute inspiriert, ihm zuzustimmen, sondern von Leuten, die zusammen daran arbeiten, ihn zu manifestieren.

Open-Source-Demokratie - ich habe vor zehn Jahren darüber geschrieben - ist nicht einfach ein Weg, Kandidaten ins Amt zu wählen. Es ist eine kollektive Reprogrammierung der sozialen Software, ein Loslösen von den Mythen, durch die wir von Verantwortung zurücktreten, und eine Reklamation unserer Rolle als Bürger, die an der Schöpfung der Gesellschaft teilhaben, in der wir leben wollen.

Dies ist ganz und gar nicht unsere persönliche Demokratie, sondern eine kollektive und partizipatorische Demokratie, in der wir endlich unsere Rollen als die vollständig literaten und engagierten Erwachsenen annehmen, die dies in die Tat umsetzen können.

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Danke fürs Lektorat: Acolina, a7p

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